Diverse ‚Gegenwarten‘. Konzepte, Theorien, Perspektiven

Mini-Workshop-Reihe mit jeweils zwei Terminen im WiSe 2023/24 und im SoSe 2024

Mit Vorträgen von Jan Behrs (New Orleans), Andrea Polaschegg (Bonn) und Johannes Schlegel (Würzburg)

Gegenwartsliteratur ist im Rahmen der Etablierung und Entwicklung der Philologien an Universitäten ein epistemisch intrikater Gegenstand. Er berührt nicht nur generelle Fragen der institutionellen Trägheit und der Begründungslasten von Innovationen, sondern literaturtheoretische und methodische Reflexionen. Diese betreffen etwa das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Literaturkritik, von Literaturgeschichte und Textanalyse, vom zeitlichen Abstandsgebot und Theorien des Verstehens (von Schleiermacher bis zur Dekonstruktion).

Sarah Chihaya, Joshua Kotin und Kinohi Nishikawa formulieren das jüngst wie folgt: “The contemporary refuses periodization — today’s contemporary will not be tomorrow’s. The contemporary refuses a canon — an agreed-upon set of objects to ground discussion and debate. The contemporary defies expertise — we can’t accumulate knowledge about ever-changing objects. The contemporary resists perspective — we can’t reliably distinguish fads from innovations. And most daunting: the contemporary is us — and we rarely know ourselves despite our obsessive self-regard.” (Sarah Chihaya, Joshua Kotin and Kinohi Nishikawa: “Introduction: How to Be Now”, in: Post 45: Peer Reviewed, July 15, 2019. http://post45.research.yale.edu/2019/07/introduction-how-to-be-now/)

Gegenwartsliteratur als wissenschaftlicher Gegenstand berührt auch politische Fragen sowie die Geschichte der Konzeptualisierung von ‚Nationalliteratur‘, vor allem aber die Geschichte der Reflexivität von ‚Moderne‘ bzw. ‚Zeitgenossenschaft‘. Gegenstand des Workshops ist – vor diesem Hintergrund – die vergleichende Perspektive auf die Geschichte der universitären Gegenwartsliteraturforschung in Deutschland, Österreich, USA und England.

Mit Vorträgen von Stephanie Marx (Wien), Kerstin Stüssel (Bonn) und Andrea Günter (Freiburg)

Die historische Emergenz der ‚Gegenwart‘, wie wir sie seit Ende des 18. Jahrhunderts beobachten und die seitdem unsere Sprachspiele der Relationierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft prägt, vollzieht sich ungefähr gleichzeitig mit einer verstärkten Festschreibung (und Biologisierung) der Geschlechterdifferenz (etwa bei Rousseau, Kant oder Kleist). Vor diesem Hintergrund wollen wir fragen, inwiefern Gegenwartskonzepte historisch und/oder aktuell mit Genderfragen verknüpft sind. Das betrifft die Diskurse um Arbeitsteilung und Zeitordnung im Rahmen einer auf Fortschritt programmierten Gesellschaft, es betrifft die Organisation und Diskussion genealogischer Zukünfte, es betrifft Momente der biologischen und gesellschaftlichen Reproduktion und es betrifft Konzepte der Erinnerungspolitik und der Politik literarisch-künstlerischer Positionierung. Anders: Haben Zeitkonzeptionen und Gegenwartskonzepte einen Genderindex und -bias und umgekehrt: Haben Genderstereotype bzw. Genderzuschreibungen einen Zeitindex? Es geht also nicht darum, wie Gender in unserer Gegenwart diskutiert wird, sondern um die Frage, ob ‚Gegenwart‘ und Konzepte der ‚Gegenwart‘ Effekte auf das Denken von Geschlecht und Geschlechterdifferenz haben und ob historische Genderdiskurse Einfluss auf das Denken von Gegenwart genommen haben.

Mit Vorträgen von Johannes Franzen (Siegen), Julia Prager (Dresden) und Julian Volz (Lüneburg)

Die von diversen Gegenwarten geprägten Debatten um die Implikationen der ausgewählten und präsentierten Artefakte auf der letzten documenta sowie - ganz aktuell - um die Reaktionen der documenta-Kuratoren auf propalästinensische Demonstrationen nach dem Hamas-Angriff auf Israel kann man als Symptom für die Kraft werten, mit der ‚Gegenwarten‘ Kunstkritik und Kunstbetrieb dominieren, ja bannen. Aber sollte Kunst (und deren Kommunikation) sich dem Gegenwartsbann nicht gerade entgegenstellen? Auch in anderen Fällen der jüngsten Zeit entzog man die Kunst einem durch die Gegenwart konstituierten Referenzrahmen. So wurde die für das Jahr 2020 geplante Retrospektive „Philip Guston now“ kurz vor der Eröffnung – vor dem Hintergrund der Black Lives Matter-Proteste – abgesagt und auf 2024 verschoben. 

Wie verhalten sich Kunst und Kunstkritik zu ihrer aktuellen Gegenwart? Wie interveniert die Gegenwart in die Kunst und wie intervenieren die Künste in die jeweiligen Gegenwarten? Was bedeutet das für den Begriff der Gegenwart und was bedeutet es für die Rolle von (Literatur und) Kunst in der Gegenwart? Lassen sich historische Linien ziehen oder Entwicklungen erkennen? Und welche systematischen Aspekte liegen Phänomenen solcher Gegenwarts-Referenzkomplexion zugrunde?

Mit Vorträgen von David Simo (Yaoundé, Kamerun), Suman Gupta (Milton Keynes, UK) und Goulia Ghardashkhani-Otter (Bamberg)

Die Semantik der Moderne mit ihren begrifflichen Dualismen von Fortschritt vs. Rückschritt, Innovation vs. Traditionsbewahrung, Zentrum vs. Peripherie, aber auch ihr Zeitdenken nach dem linearen Modell der Entwicklung von Vergangenheit über Gegenwart zu Zukunft und nach dem räumlichen Modell der ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ entstehen um 1800 in Europa bzw. Nordamerika. Sie verweisen nicht zuletzt auf die tiefgreifenden Veränderungen durch die Amerikanische und die Französische Revolution.

In diesem Kontext entstehen auch die Vorstellungen, dass Literatur auf ihre eigene zeitliche Gegenwart referieren und dass sie als Ausdruck ihrer eigenen Gegenwart verstanden werden soll. Die Begriffe ‚Gegenwartsliteratur‘ oder ‚contemporary literature‘ sind in diesem Sinn normativ aufgeladen.

Wie aber lässt sich das Verhältnis von Gegenwart und Literatur außerhalb der genannten historischen und kulturellen Zusammenhänge beschreiben? Auf welche möglicherweise alternativen Zeitvorstellungen trifft jene Semantik der Moderne im Prozess der Globalisierung und der damit einhergehenden transkulturellen Verflechtungen? Welche Reflexionen über Zeit und Zeitkonzepte liegen unter diesen Bedingungen Diskursen über Literatur jeweils zugrunde? Lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Gegenwart und Literatur in postkolonialen Kontexten in dieser Form überhaupt stellen? Diese Fragen sollen im Workshop exemplarisch im Hinblick auf Kamerun, Indien und Iran/Irak diskutiert werden.

Infobox

Termin 1
Freitag, 1. Dezember 2023
09:30-14:00 Uhr, Genscherallee 3, R. 2.009

Termin 2
Freitag, 2. Februar 2024
09:30-14:00 Uhr, Genscherallee 3, R. 2.009

Termin 3
Freitag, 26. April 2024
09:30-14:00 Uhr, Genscherallee 3, R. 2.009

Termin 4
Freitag, 12. Juli 2024
09:30-14:00 Uhr, Genscherallee 3, R. 2.009

Organisation
Johannes Lehmann, Kerstin Stüssel

Film- und Fotohinweis

Das Graduiertenkolleg lässt im Rahmen der Veranstaltung ggf. Fotos und Tonaufnahmen anfertigen, die im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit im Internet, in Printmedien und auf Social Media-Kanälen veröffentlicht werden. Mit der Teilnahme an der Veranstaltung erklären sich die Teilnehmer*innen mit den Foto- und Tonaufnahmen sowie deren Speicherung und Veröffentlichung einverstanden. Bitte sprechen Sie unsere Fotograf*innen und Organisator*innen vor Ort an, falls Sie nicht fotografiert oder aufgenommen werden möchten.

Fotos vom 1. Termin am 1. Dezember 2023

Fotos vom 2. Termin am 2. Februar 2024

Fotos vom 3. Termin am 26. April 2024

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